Eine Episode von Cancel-Culture in Brasilien

200 Mitarbeiter der Tageszeitung “Folha” möchten “rassistische Beiträge” zensurieren, aber Herausgeber will Blatt für kontroverse Debatten offen halten

Der Anthropologe und Schriftsteller Antonio Risério hat diese Woche eine heftige aber notwendige Debatte über den Rassismus in Brasilien ausgelöst. Foto: poetassigloveintiuno.blogspot.com

Der Anthropologe und Schriftsteller Antonio Risério hat am vergangenen Sonntag in der Folha de S. Paulo einen Artikel publiziert, in dem er auf Episoden von Rassismus von Schwarzen gegen Weisse hinweist. Er stellt den in Brasilien vorherrschenden Rassismus gegen Schwarze nicht in Abrede, wirft aber der schwarzen identitären Bewegung vor, ein suprematistisches Projekt zu verfolgen. Das Thema hat sofort hohe Wellen geschlagen, und in den sozialen Medien prallten die gegensätzlichen Lager nach kurzer Zeit voll aufeinander.

Eine Gruppe von Folha-Journalisten richtete am Montag ein kritisches Schreiben an das Management der Tageszeitung, in dem sie von der Gefahr „wiederkehrender rassistischer Inhalte“ warnte. Die nahezu zweihundert Unterzeichneten erklärten, Folha habe “in letzter Zeit mehr als einmal Meinungsartikel oder Kolumnen veröffentlicht, die, gestützt auf Irrtümer und Verzerrungen, den strukturellen Charakter des Rassismus in der brasilianischen Gesellschaft leugnen oder relativieren”. Sie stellen zudem fest, dass die “Suche nach Publikum auf Kosten der schwarzen Bevölkerung geht und unvereinbar ist mit dem Dienst an der Demokratie». In einem weiteren Auszug aus dem Schreiben heisst es, “der Rassismus ist eine konkrete Tatsache in der brasilianischen Realität, und Folha trägt zu seiner Aufrechterhaltung bei, indem sie Beiträgen, die seine Bedeutung verniedlichen, Raum und Glaubwürdigkeit gibt».

Risério konnte jedoch auch mit Unterstützung für seinen Artikel rechnen. So erschien diese Woche ein Schreiben, das von hunderten von Personen, unter anderem von den Anthropologen Luiz Mott und Roberto da Matta, unterzeichnet wurde. “Das Unbehagen, das Risério verursacht, ist notwendig, damit Identitäre, Antiuniversalisten, Relativisten und Revanchisten wissen, dass eine Opposition existiert und nicht zusammenbrechen wird, egal wie viele Grossunternehmen sich bei ihrem Kreuzzug für moralische Ungleichheit auf ihre Seite schlagen. Antonio Risério ist derzeit eine der wichtigsten Stimmen des Landes, insbesondere im Widerstand gegen eine intolerante und autoritäre Ideologie. Wir äussern uns mit einem Aufruf zur Achtung der freien Meinungsäusserung dieser Stimmen.”

Der Chefredakteur von Folha, Sérgio Dávila, meldete sich ebenfalls zu Wort, und zwar zunächst zur Petition, die er als legitimes Instrument anerkennt. Allerdings findet er, der Inhalt verstosse gegen die Pluralität und die kompromisslose Verteidigung der Meinungsfreiheit, beides Säulen des Projekts von Folha de S. Paulo. „Die Unterzeichneten irren, sind parteiisch und erheben unbegründete Anschuldigungen, drei für Journalisten unerwünschte Eigenschaften.” Auch die Anschuldigung, die Zeitung sei auf der verzweifelten Suche nach Clicks, lässt Dávila nicht gelten, hätten doch die erwähnten Texte an den Tagen ihrer Veröffentlichung nur gerade ein Prozent des Gesamtpublikums erreicht.

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